Geschlechtsspezifische Medizin

21.03.2024  — Samira Sieverdingbeck.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

Krankheiten betreffen nicht alle Geschlechter gleich. Trotzdem werden geschlechtsspezifische Unterschiede oft noch ignoriert, mit schwerwiegenden Folgen. Die geschlechtsspezifische Forschung in Biologie und Medizin widmet sich nun vermehrt diesem Thema, um eine gerechtere und effektivere medizinische Versorgung für alle zu gewährleisten.

Am 19. und 20. März fand in Homburg die Fachtagung zur geschlechtsspezifischen Biologie und Medizin statt. Seit knapp einem halben Jahr baut die Universität des Saarlandes bereits ein wissenschaftliches Zentrum zu diesem Thema auf. Bei der Fachtagung ging es nun um Fragestellungen, wie „Welche Tumore sind bei Männern häufiger als bei Frauen?“ oder „Werden chemische Signale im weiblichen Gehirn anders übertragen als bei Männern?“.

Disclaimer:
Zwar sprechen wir in diesem Artikel von „Männern“ und „Frauen“, wir möchten aber ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir explizit Menschen einschließen möchten, die sich der LGBTQIA+-Community oder keinem dieser Begriffe angehörig fühlen.

Jahrhunderte lang galt der männliche Körper als der „wahre“ Körper– der weibliche Körper wurde vernachlässigt. In Folge des Contergan-Skandals in den 60er-Jahren wurden Frauen sogar vollständig von klinischen Studien ausgeschlossen. Nur langsam wird die dadurch entstandene Wissenslücke geschlossen.

„In der Medizin sind inzwischen viele Beispiele bekannt, dass Männer und Frauen unterschiedliche Symptome aufweisen können und verschieden auf Medikamente reagieren. Die Forschung dazu steht jedoch noch am Anfang“, sagte Frank Kirchhoff, Professor für Molekulare Physiologie der Universität des Saarlandes, in Ankündigung der Tagung.

Doch was bedeutet das konkret? Wie können wir als Laien verstehen, warum wir geschlechtsspezifische Medizin dringend brauchen? Anhand von drei Beispielen zeigen wir es Ihnen.

Das bekannteste Beispiel: Der Herzinfarkt

Die Hand greift zur Brust, das Gesicht verzieht sich schmerzerfüllt, die Krawatte wird gelockert – so wird der Herzinfarkt häufig in Filmen dargestellt. Und tatsächlich kann er genau so aussehen, denn der ausstrahlende Brustschmerz, Angst, Schwitzen und Verdauungsstörungen gehören zu den klassischen Symptomen des Herzinfarkts. Jedoch primär bei Männern, denn der Herzinfarkt hat sich mittlerweile zu einem prominenten Beispiel etabliert, wenn es darum geht geschlechtsspezifische Unterschiede bei Erkrankungen zu verdeutlichen.

Tatsächlich sind die Symptome eines Herzinfarkts bei Frauen eher vage. „Manchmal klagen sie lediglich unter Kurzatmigkeit, Übelkeit, Erbrechen oder grippeähnliche Symptome,“ berichtet das Ärzteblatt. Die Krankenkasse BARMER spricht von Atemnot, Rückenschmerzen, Übelkeit und Erbrechen, Armschmerzen und kaltem Schweiß. An einen Herzinfarkt denkt da fast keiner, weshalb die Diagnose oft nicht oder verspätet gestellt wird.

Die tragische Konsequenz zeigt sich in Statistiken: Zwar erleiden Frauen seltener einen Infarkt, jedoch versterben sie aufgrund der komplexeren Diagnostik häufiger daran als Männer.

Großes Leiden, wenige Diagnosen – Endometriose

Nicht nur bei Krankheiten die Männer und Frauen gleichermaßen betreffen, auch bei Erkrankungen, die an das biologische Geschlecht gebunden sind, zeigt sich, dass die geschlechtsspezifische Forschung bisher noch hinterherhinkt. Das Beispiel Endometriose verdeutlicht es:

Endometriose ist eine chronische Erkrankung, bei der Gewebe ähnlich dem Gebärmutterschleimhautgewebe außerhalb der Gebärmutter wächst, oft im Bauchraum. Diese Wucherungen können zu extremen Schmerzen, Menstruationsstörungen und möglicherweise sogar zu Unfruchtbarkeit führen.

Anfang Februar titelte das Ärzteblatt „Diagnose Endometriose wird häufiger“, und das liegt nicht etwa daran, dass immer mehr Frauen Endometriose haben – es wird schlicht häufiger diagnostiziert.

  • 2022 wurde die Erkrankung bei 9,5 von 1000 Frauen festgestellt
  • Das entspricht einer relativen Zunahme von 65 % seit 2012

Das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) geht davon aus, dass die Anzahl der tatsächlich diagnostizierten Fälle trotzdem noch deutlich niedriger als die Gesamtanzahl ist. Derzeit wird davon ausgegangen, dass rund zwei Millionen Frauen und Mädchen in Deutschland von Endometriose betroffen sind.

Trotzdem hat die Wissenschaft im Bereich Endometriose, im Gegensatz zu anderen Erkrankungen, nur wenig zu bieten. Im Schnitt vergehen acht bis zehn Jahre, bis eine Diagnose gestellt wird.

Derzeit fehlt in Sprechstunden schlichtweg die Zeit, die komplexe Diagnostik durchzuführen. Außerdem müsse deutlich mehr in Forschung und Finanzierung von Therapieansätzen, aber vor allem auch in Grundlagen- und Versorgungsforschung investiert werden, schrieb das Ärzteblatt zum Thema.

Ist Endometriose also marginalisiert, weil sie nur Frauen betrifft? Diese Frage lässt sich nicht mit Klarheit beantworten. Deutlich wird jedoch, dass viele Betroffene unter den derzeitigen Umständen leiden und noch einiges aufzuholen ist.

Depression – eine Erkrankung der Frauen?

Doch nicht nur Frauen sind benachteiligt, auch Männer werden durch fehlende Differenzierung in Mittleidenschaft gezogen, denn es gibt auch Erkrankungen, die als „typisch weiblich“ gelten.

Depressionen zum Beispiel werden deutlich häufiger bei Frauen diagnostiziert, doch natürlich erkranken auch Männer daran. Bei ihnen wird die Krankheit schlichtweg seltener erkannt. Das liegt auch daran, dass sich ihre Symptome, von denen der Frauen unterscheiden.

Depressionen zeigen sich vor allem durch gedrückte Stimmung und Interessenlosigkeit. Das ICD 10 beschreibt die Symptome unter anderem wie folgt: Gedrückte Stimmung, Verminderung von Antrieb und Aktivität, Fähigkeit zu Freude, Interesse und Konzentration sind vermindert, Ausgeprägte Müdigkeit, Gestörter Schlaf, Verminderter Appetit, Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und des Selbstvertrauens, Schuldgefühle und Gedanken der Wertlosigkeit.

Jedoch widerspricht das klassische Bild der Depression dem stereotypen, konservativen Bild von Männlichkeit. Vielen Männern fällt es dadurch deutlich schwerer ihre Gefühle auszudrücken, oder sich mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass sie an einer Depression erkrankt sein könnten. Auch ihre Symptome sehen deshalb oft anders aus, was die Diagnose weiter erschwert. Das Klinikum Wahrendorff schreibt dazu:

Neben den klassischen depressiven Symptomen zeigen Männer häufig eine starke innere Anspannung, die sich nachfolgend teilweise in zunehmender Gereiztheit, Aggression und Impulsivität ausdrückt.

Außerdem neigen Männer stärker zum Substanzmissbrauch, um negative Gefühle zu verdrängen. Auch ein erhöhtes Risikoverhalten und der Rückzug von sozialen Kontakten gehören dazu. Besonders erschreckend ist der Gender Gap mit Blick auf die Suizidrate: Im Jahr 2022 starben in Deutschland 10.119 durch Suizid – 75 % von ihnen waren Männer.

Prominente wie Kurt Krömer und Torsten Sträter, die sich öffentlich zu ihrer Depression bekennen, helfen Vorurteile zu durchbrechen. Darüber hinaus konzentrieren sich immer mehr Kliniken darauf, besonders im Bereich der psychischen Erkrankungen, Männer, ihre Symptome und Bedürfnisse explizit mitzudenken.

Fazit

Auf biologischer Ebene unterscheiden sich der weibliche und männliche Körper – nur wie genau, wissen wir noch nicht. Fakt ist jedoch, dass ein detaillierteres Wissen um die Unterschiede und Besonderheiten allen Menschen zugutekommt.

Bisher hinkt Deutschland bei der Forschung zwar noch hinterher, doch es tut sich einiges. Institute wie im Saarland, in Bielefeld oder das der Charité Berlin legen den Grundstein zu erfolgreicher Forschung. Studierende setzten sich dafür ein, dass geschlechtsspezifische Medizin auch im Studium zum Pflichtfach wird und das Bundesgesundheitsministerium unterstützt derzeit zwölf Projekte mit rund 4,1 Millionen Euro.

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Bild: Pixabay (Pexels, Pexels Lizenz)

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